Interview

Ein deutscher Staatsrechtler ist überzeugt: Das Bundesverfassungsgericht wird immer mächtiger – und weitet seine Befugnisse aus

Grundrechte würden nicht mehr als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden, sagt Christoph Degenhart. Stattdessen würden sie zum Einfallstor für staatliche Eingriffe.

Oliver Maksan, Berlin 5 min
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Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Sebastian Gollnow / DPA

Herr Professor Degenhart, mit der vorerst abgesagten Richterwahl ist das deutsche Verfassungsgericht derzeit so stark im Fokus wie vielleicht noch nie. Besonders an der Personalie der Potsdamer Rechtswissenschafterin Frauke Brosius-Gersdorf hat sich die Kritik entzündet. Können Sie das nachvollziehen?

Lassen Sie mich vorausschicken: Wer sich in einer Demokratie zur Wahl stellt, kann gewählt werden oder eben auch nicht. Denn die Wahlberechtigten – in diesem Fall also die Abgeordneten des Bundestags – sind in ihrer Wahlentscheidung frei. Bestehen schon im Voraus Zweifel, ob der Kandidat oder die Kandidatin gewählt werden wird, so kann es durchaus sinnvoll sein, die Wahl abzusagen oder zu verschieben, wie im Fall Brosius-Gersdorf.

Aber teilen Sie die Kritik an der Kandidatin?

Die Kritik, die im Vorfeld gegen Frau Brosius-Gersdorf geäussert wurde, kann ich inhaltlich nachvollziehen, aber nicht die Angriffe gegen die Person. Dass man sich mit den potenziellen Richtern und Richterinnen auch öffentlich befasst, liegt sicher auch daran, dass man sich zusehends bewusst wird, welche Bedeutung das Bundesverfassungsgericht für Politik und Gesellschaft hat. Das liegt auch daran, dass das Gericht von Anfang an und gerade auch in jüngster Zeit über seine Kompetenzen seine Gestaltungsmacht kontinuierlich erweitert hat.

Inwiefern?

Beispielsweise über seine Rechtsprechung zu den Grundrechten. Im Bestreben um perfektionierten Grundrechtsschutz lässt sich eine immer stärkere Tendenz beobachten, die Grundrechte zusehends nicht nur als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat zu begreifen, sondern umgekehrt als Grundlage für staatliche Eingriffe in Grundrechte der Bürger.

Christoph Degenhart ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Leipzig und ehemaliger Richter am sächsischen Verfassungsgerichtshof.

Christoph Degenhart ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Leipzig und ehemaliger Richter am sächsischen Verfassungsgerichtshof.

Privat

Woran machen Sie das fest?

Ein eklatantes Beispiel ist die Rechtsprechung zu den massiven Grundrechtseingriffen in der Pandemie. Auch die Rechtsfigur des generationenübergreifenden Grundrechtsschutzes führt dazu, dass das Gericht dem Gesetzgeber sagt, was er zu tun hat. All dies gibt dem Bundesverfassungsgericht eine sehr weitgehende Gestaltungsmacht gegenüber dem Gesetzgeber, ebenso wie seine Rechtsprechung zu den Staatszielen – Sozialstaat, Umweltschutz, Klima.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen Sie den Klimabeschluss von 2021. Damals hat das Gericht geurteilt, dass unzureichender Klimaschutz die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen beeinträchtige, und den Gesetzgeber zum Nachbessern verpflichtet. Das Gericht hat sich mit dieser problematischen Rechtsfigur eines generationenübergreifenden Grundrechtsschutzes nicht nur aus meiner Sicht schon in Richtung Klimaaktivismus bewegt, indem es klimapolitische Zielsetzungen in das Grundgesetz hineingelesen hat. Das zeigt sich auch an anderen Gegenständen.

Zum Beispiel?

Vor kurzem wurde die Frage der grundrechtlichen Schutzpflichten gegenüber Jemen verhandelt. Demnach muss die Bundesrepublik darauf hinwirken, dass die USA nicht unter Benutzung von Einrichtungen auf deutschem Boden möglicherweise völkerrechtswidrige Aktionen in Jemen ausführen. Damit erstreckt sich die Schutzpflicht des deutschen Staates auch auf Bürger von Jemen.

Aber in dem konkreten Fall unterlagen die jemenitischen Kläger doch.

Ja, allerdings wurde in den Anmerkungen zum Urteil ausgeführt, dass es im Grunde eine Gebrauchsanweisung für künftige Klagen sein könnte. Wir haben letztlich im Grunde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Tendenz, einen universalen Anspruch der Grundrechte zu formulieren. Das halte ich für eine problematische Entgrenzung. Dazu neigen übrigens auch andere Gerichte.

Inwiefern?

Nehmen Sie den peruanischen Bauern vor dem Oberlandesgericht Hamm. Es hat zwar im Mai seine Klagen gegen den deutschen Energiekonzern RWE abgewiesen. Es sah es im konkreten Fall nicht als erwiesen an, dass die CO2-Emissionen von RWE zu einer Gletscherschmelze in Peru führen, die sein Haus konkret bedroht. Grundsätzlich aber können deutsche Firmen nach dieser Entscheidung für Schäden in anderen Weltgegenden belangt werden.

Wie das?

Das Gericht führt dafür absurderweise das Nachbarschaftsrecht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches an. Demnach ist Peru deutsche Nachbarschaft. Hier wird das Verursacherprinzip auf den Klimawandel übertragen. Für mich ist das Ausdruck von juristischem Aktivismus, sicher von Karlsruhe inspiriert.

Vor diesem Hintergrund eines Gerichts mit so weitreichender Gestaltungsmacht wie das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der Richterbesetzung doch eine grössere Bedeutung als früher, oder?

Ja. Es darf auch nicht sein, dass bestimmte politische Richtungen durch ihre in Karlsruhe installierten Kandidaten versuchen, sich vom Wählerwillen unabhängig zu machen. Denn sind wir einmal ehrlich: Dass die SPD mit ihren 16 Prozent bei der Bundestagswahl die gleichen Vorschlagsrechte hat wie die nahezu doppelt so starken Unionsparteien CDU und CSU, während die stärkste Oppositionspartei draussen bleibt, ist nicht vermittelbar.

Aber die Empörung hat sich nicht daran entzündet, dass die SPD Richterkandidaten vorschlagen darf, sondern daran, wen sie vorschlägt. Frau Brosius-Gersdorf schien für Teile von CDU und CSU jedenfalls nicht wählbar zu sein. Können Sie das nachvollziehen?

Wie ich schon sagte: Die Abgeordneten sind frei in ihrer Entscheidung. Dies bedeutet logischerweise, dass sie einen Wahlvorschlag nicht akzeptieren müssen. Genau das haben sie getan. Sie haben von ihrem freien Mandat Gebrauch gemacht. Dass ihnen bestimmte Positionen der Kandidatin nicht zusagten, ist nachvollziehbar – auch wenn diese Positionen in der Diskussion mitunter etwas vereinfachend dargestellt wurden, wie das sehr komplexe Verhältnis von Menschenwürde und Lebensrecht. Auch ihre Einstellung zum Kopftuch auf der Richterbank, zu einem paritätischen Wahlrecht oder in familienpolitischen Fragen dürfte vielen Abgeordneten gegen den Strich gehen. All dies sind Auffassungen, die in der Rechtswissenschaft durchaus vertreten werden, aber die Richterwahl ist eben kein rechtswissenschaftliches Seminar, sondern eine rechtspolitische Entscheidung.

In den USA sind Nominierungen für den Supreme Court schon lange umkämpft, weil er so einflussreich ist. Es streiten sich auch zwei Rechtsschulen miteinander. Die einen sagen, die amerikanische Verfassung müsse so ausgelegt werden wie zur Zeit der Gründungsväter, Stichwort «original intent». Andere wollen die Verfassung dynamisch auslegen. Wird dieser Streit auch nach Deutschland getragen?

Diesen Streit sehe ich so in Deutschland nicht. Es war immer Konsens, dass das Grundgesetz im Lichte aktueller Herausforderungen ausgelegt werden muss. Denken Sie an das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das Karlsruhe anlässlich einer Volkszählung 1983 aus dem Grundgesetz abgeleitet hat. Oder auch an das sogenannte Computergrundrecht von 2010, mit dem hohe Hürden für Online-Durchsuchungen errichtet wurden. Von diesen Problemstellungen konnten die Väter und Mütter des Grundgesetzes Ende der vierziger Jahre ja nichts wissen.

Ja, aber die Richter haben diese Rechte aus dem Grundgesetz abgeleitet, nicht erfunden.

Ja, das ist der springende Punkt. Ausserdem ist das in der Regel in grossem Einvernehmen innerhalb des Gerichts geschehen. Anders als am amerikanischen Supreme Court gab es nie diese scharfen Frontstellungen innerhalb der Richterschaft. Diese konsensorientierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sein hohes Ansehen und seine Autorität begründet. Sie darf keinen Schaden nehmen. Es darf sich im Gericht keine Art von Polarisierung entwickeln.